Im Gespräch

„Wir müssen, wenn wir Inklusion ernst nehmen wollen, Betroffene selbst zu Wort kommen lassen“

Raul Krauthausen verleiht Menschen mit Behinderung eine Stimme

Interview:

© Melanie Wehnert SOZIALHELDEN e.V.
© Melanie Wehnert SOZIALHELDEN e.V.

 

Raul Krauthausen ist Inklusions-Aktivist und Gründer des Sozialhelden e.V. Mit dem Verein wollen er und sein Team Menschen für gesellschaftliche Probleme sensibilisieren und zum Umdenken bewegen. Seit über 15 Jahren arbeitet er in der Internet- und Medienwelt und hat dort zahlreiche Projekte für Menschen mit Behinderung initiiert. In seiner als Buch erschienenen Biographie „Dachdecker wollte ich eh nicht werden - Das Leben aus der Rollstuhlperspektive“ hält Raúl Krauthausen, der aufgrund seiner Glasknochen im Rollstuhl sitzt, ein persönliches Plädoyer für Toleranz und Freude am Leben. Seit 2015 moderiert er mit „KRAUTHAUSEN – face to face“ im Netz und auf Sport1 seine eigene Talksendung zu den Themen Kultur und Inklusion. 

 

Sie bezeichnen sich als Aktivist für Menschen mit Behinderung. Wie definieren Sie den Begriff Aktivist?

Als Aktivist geht es mir darum, nicht nur Missstände anzuprangern, sondern auch Alternativen aufzuzeigen. Für Menschen mit Behinderung heißt das, für ein Leben ohne Barrieren zu kämpfen. Denn schließlich sind wir diejenigen, die es betrifft.

 

Der Begriff „Inklusion“ spielt in der öffentlichen Debatte eine große Rolle. Was ist für Sie gelungene Inklusion?

Gelungene Inklusion ist das, was ich in meiner Kindheit und Jugend erlebt habe. Das fing im Kindergarten an und ging weiter in der Schule. Ich habe sozusagen einen der ersten Inklusionskindergärten besucht, ohne dass man das damals so nannte. Das ging dann weiter an der Grundschule und auch auf der weiterführenden Schule, der Sophie-Scholl Schule, einer Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe in Berlin-Schöneberg, wurde Inklusion gelebt. Das setzte natürlich voraus, dass es dort kleine Klassen mit höchstens 15 Schülern und vielen Pädagogen gab. Viele Fragen würde das lösen. Davon profitierten damals auch Nichtbehinderte. Denn bei einer gelungenen Inklusion müssen Pädagogen für alle da sein.

 

An welchem Punkt der Inklusion befinden wir uns im Rückblick auf die vergangenen 50 Jahre?

Diese Frage werde ich oft gestellt, halte sie aber für falsch. Das setzt den Gedanken voraus, dass wir irgendwann damit fertig sind. Inklusion ist allerdings ein Prozess. In zwanzig Jahren stehen wir in Sachen Inklusion wieder vor wieder neuen Aufgaben. Bereits jetzt gibt es zum Beispiel Fragestellungen zum Thema Intersektionalität von Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund. Es wird immer mehr Mischformen geben, die in der Gesellschaft mehr zum Thema werden. Wenn es um Inklusion geht, sind wir längst noch nicht soweit wie wir sein könnten. Spanien und Italien haben beispielsweise bereits in den 80er Jahren die Sonderschulen abgeschafft. In Deutschland gibt es Sonderschulen noch bis heute. Konservative Kräfte tun sich in diesem Land schwer, neu zu denken und auf diesem Gebiet für Veränderung zu sorgen. Meiner Ansicht nach bringen Gesamtschulen die Lösung. Orte an denen gemeinsam gelernt wird. Das setzt natürlich auch genügend Lehrpersonal voraus.

 

Welches Land in Europa ist beim Thema Inklusion weiter als Deutschland in Bezug auf Inklusion?

Das sind eindeutig die skandinavischen Länder. Was zählt ist da die Haltung. In Schweden sagt man z.B., wenn wir Gebäude bauen, müssen alle Stockwerke barrierefrei sein. Was nützt es nur einzelne Wohnungen barrierefrei zu gestalten, oder nur die unteren Etagen? Menschen mit Behinderung müssen schließlich in der Lage sein, Nichtbehinderte zu besuchen. Deshalb müssen alle Gebäude ohne Hindernisse gebaut werden und nicht nur Prozent der Neubauten, wie in Deutschland.

 

Sie sind sehr umtriebig. Sie moderieren eine Talkshow bei Krauthausen.tv, haben ein Buch veröffentlicht und sind auf vielen öffentlichen Bühnen unterwegs, wenn es um Rechte von Behinderten geht. Welchen Raum nimmt Ihr Engagement für die Sozialhelden ein?

Ungefähr 50 Prozent meiner Arbeitszeit setze ich für den Verein Sozialhelden ein. Mir ist bei meiner Arbeit wichtig, Menschen mit Behinderung eine Stimme zu geben. Das gilt auch für meine weiteren Aktivitäten, wie etwa in meinem Talkshow-Format „KRAUTHAUSEN - face to face“. Hier stelle ich Menschen mit Behinderung vor, die sich mit den verschiedensten Themen beschäftigen. Menschen mit Behinderung sollten in allen öffentlichen Bereichen vertreten sein. Nicht nur im Sport, wie es allgemein wahrgenommen wird. So auch z.B. in der Kultur. Im Idealfall trete ich in den Hintergrund und die Menschen sprechen selbst für sich.

 

Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) wurde seitens der Politik als großer Erfolg für die Rechte von Behinderten verkauft. Sie gehören nicht nur im Netz unter dem Hashtag #Nichtmeingesetz zu den Kritikern der Beschlüsse. Was könnte an dem Gesetz noch verbessert werden?

Das Zustandekommen des BTHG hat von Beginn an drei herausgehobenen Punkten Schwächen: Bereits zu Beginn hat man das Gesetz unter dem Kostenvorbehalt entworfen. Das heißt, seine Auswirkungen durften nicht mehr Kosten verursachen. Das bedeutet nichts anderes als Geld von A nach B zu verschieben. Als zweites Problem sehe ich, dass es Behörden ermöglicht, Menschen, die auf Assistenz angewiesen sind, in Heime zu zwingen. Das kann immer dann geschehen, wenn eine Assistenz von Menschen mit Behinderung zum Beispiel zuhause mehr kostet, als eine Heimbetreuung. Damit verletzt das BTHG ein Grundrecht des Menschen: Nämlich das der freien Selbstbestimmung wie und wo man wohnen möchte. Als drittes wesentliches Problem des BTHG sehe ich, das noch ungeklärt ist, wie eine Assistenz z.B. bei ehrenamtlichem Engagement von Behinderten geregelt ist. Das Gesetz sieht vor, das der behinderte Mensch zu dessen Ausführung Familie und Freunde in die Pflicht nehmen muss. Das bedeutet auch, dass das gilt, wenn er sich gesellschaftlich-politisch einbringt. Damit wird gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung jedoch massiv eingeschränkt. Darüber hinaus können Sozialämter Menschen, die auf Assistenz angewiesen sind dazu zwingen, sich einen Assistenten zu teilen. Menschen, die gemeinsam in einer Wohngemeinschaft leben, bekommen auf diese Weise massive Probleme, ihren Individualinteressen nachzugehen.

Wie sieht nach Ihrer Ansicht die ideale Selbstbestimmung auf Berufsebene aus? 

Derzeit dürfen Menschen, die auf Assistenz angewiesen sind, nicht mehr als den doppelten Hartz 4 Satz plus der Mietkosten verdienen. Eine Assistenz ist sehr teuer und als Privatperson kann man sie sich nicht leisten. Um jedoch die Motivation zu fördern, einer Berufstätigkeit nachzugehen und eigenes Geld zu verdienen, muss diese Einkommensbeschränkung fallen. Politiker sollten doch ein Interesse daran haben, dass Menschen mit Behinderung einer Berufstätigkeit nachgehen und dass damit die Inklusion gefördert wird. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten sollten schließlich auch Menschen mit Behinderung der gleichen Arbeit nachgehen können wie Nichtbehinderte.

 

Abschließend noch die Frage, woher Ihre Energie kommt, sich so umfassend für Ihre Projekte einzusetzen?

Das sieht immer nach mehr aus, als es ist und nicht alles lastet auf meinen Schultern. Bei den Sozialhelden z.B. sind wir zwölf Leute im Team, die mit mir gemeinsam die Arbeit machen. Bei Krauthausen.tv gibt es eine Redaktion. Dazu treibt mich meine Neugier, gepaart mit Ungeduld, an. Eh ich abwarte bis sich etwas ändert, gehe ich die Sache lieber selbst an. Mein Credo lautet daher auch „Wartet nicht, packt an!“ und „Sprecht nicht über die Betroffenen, sondern mit Ihnen!“

 

Interview: Jürgen-M. Edelmann

Das Interview erschien am 27.03.2017 in der Sonderbeilage zum Thema Leben mit Behinderung in der Berliner Zeitung und dem Berliner Kurier.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0